Die Einheit der Christen – Zurück zu den Wurzeln

zum Evangelium des 7. Sonntags nach Ostern

Liebe Schwestern und Brüder,

stellen Sie sich vor, Sie müssten heute einem Fremden in wenigen Minuten erklären, was es bedeutet, Christ zu sein. Welche Voraussetzungen würden Sie nennen? Welche Hürden müsste diese Person überwinden? Wenn wir ehrlich sind, würde unsere Liste vermutlich lang werden: Taufschein, Firmung, Kirchensteuer, regelmäßiger Gottesdienstbesuch, Kenntnis der Glaubenslehre…

Wie anders war das in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod und Auferstehung! Die Apostelgeschichte erzählt uns von einem äthiopischen Hofbeamten, der nach Jerusalem gepilgert war, um Gott anzubeten. Dieser Mann war ein Eunuch – nach jüdischem Gesetz von der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen, ein Außenseiter kraft seiner körperlichen Verfassung. Auf seinem Heimweg las er aus der Schrift, suchte nach Verstehen, nach Sinn.

Da begegnet ihm Philippus. Kein langwieriges Katechumenat, keine theologischen Prüfungen, keine bürokratischen Hürden. Philippus erzählt ihm von Jesus. Der Äthiopier glaubt. Und als sie an eine Wasserstelle kommen, lässt er sich taufen – spontan, unmittelbar, aus dem Herzen heraus.

Taufe-to-go, könnte man spöttisch sagen. Aber war es nicht vielmehr die Reinheit des Glaubens, die hier zum Ausdruck kam? Ein Mensch, der Gott suchte, traf auf die Botschaft der Liebe und öffnete sein Herz. Mehr brauchte es nicht.

Diese Unmittelbarkeit durchzieht das gesamte Neue Testament wie ein roter Faden. Jesus selbst verspricht das Reich Gottes nicht nur den Getauften, nicht nur denen, die alle religiösen Vorschriften erfüllen. In den Seligpreisungen wendet er sich an alle Menschen guten Willens: „Selig sind die Barmherzigen, die Friedensstifter, die nach Gerechtigkeit Hungernden.“ (Mk 16,16) Keine Bedingungen, keine Mitgliedschaft erforderlich – nur das offene Herz.

So führen die Apostel diese Praxis fort: Nach der Pfingst­pre­digt des Petrus fragten die Zuhörer, was sie tun sollten, um ge­rettet zu werden. Petrus antwortete: „Kehrt um und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi tau­fen zur Vergebung eurer Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Hei­ligen Geistes empfangen.“ (Apg 2,38)

Denken Sie an den Kerkermeister in Philippi. Paulus und Silas sitzen im Gefängnis, als ein Erdbeben die Türen öffnet. Der Wächter, verzweifelt über seine vermeintliche Pflichtvernachlässigung, will sich das Leben nehmen. Paulus hält ihn auf. In diesem Moment der existenziellen Erschütterung fragt der Mann: „Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“

Die Antwort ist von ergreifender Einfachheit: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus gerettet werden.“ (vgl. Apg 16,30f) Keine Bedenkzeit, keine Prüfung, keine Wartefrist. Noch in derselben Nacht wird er mit seiner ganzen Familie getauft.

Paulus bringt es später im Römerbrief auf den Punkt: Wer mit dem Mund bekennt, dass Jesus der Herr ist, und im Herzen glaubt, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wird gerettet werden. (vgl. Röm 10,9) So einfach. So direkt. So menschlich.

Aber was ist aus dieser Einfachheit geworden? Zweitausend Jahre Geschichte haben Schichten über Schichten gelegt: Dogmen, Institutionen, Abgrenzungen, Spaltungen. Katholiken, Protestanten, Orthodoxe, Freikirchen – alle berufen sich auf denselben Jesus, alle lesen dieselben Worte der Bergpredigt, alle beten dasselbe Vaterunser. Und doch trennen uns oft mehr die menschengemachten Unterschiede als uns die göttliche Gemeinsamkeit verbindet.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Traditionen haben ihren Wert, Strukturen ihre Berechtigung, theologische Reflexion ihre Notwendigkeit. Aber wenn diese Dinge zum Selbstzweck werden, wenn sie höhere Mauern errichten als Brücken bauen, dann haben wir uns von dem entfernt, was im Kern christlich ist.

Die Einheit, nach der wir suchen, liegt nicht in der Uniformität. Sie liegt in der gemeinsamen Hinwendung zu dem, der uns alle gerufen hat. Der äthiopische Eunuch und der römische Kerkermeister hätten vermutlich wenig gemeinsam gehabt – verschiedene Kulturen, verschiedene Sprachen, verschiedene Lebenswelten. Aber beide fanden in Jesus eine Antwort auf die tiefste Sehnsucht des menschlichen Herzens.

Augustinus, einer der großen Kirchenväter, hat es in die Worte gefasst, die bis heute wegweisend sein können: „In den notwendigen Dingen Einheit, in den zweifelhaften Dingen Freiheit, in allem aber Liebe.“

Was sind die notwendigen Dinge? Die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Hoffnung auf Gottes Reich. Der Glaube an Jesus Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben. Das Bewusstsein, dass wir alle auf Gottes Gnade angewiesen sind.

Was sind die zweifelhaften Dinge? Vielleicht vieles von dem, was uns trennt: Liturgische Formen, kirchliche Strukturen, theologische Spitzfindigkeiten. Wichtig, durchaus diskussionswürdig, aber nicht trennend für die Kernbotschaft des Glaubens.

Und die Liebe? Sie ist das Maß aller Dinge. Sie ist es, die aus Fremden Geschwister macht, die aus Verschiedenheit Vielfalt werden lässt, die aus Spaltung Heilung erwachsen lässt.

Liebe Gemeinde, wir leben in einer Zeit, in der die Welt mehr denn je Zeichen der Hoffnung und der Einheit braucht. Menschen suchen nach Sinn, nach Gemeinschaft, nach einem Halt, der trägt. Wenn wir als Christen verschiedener Konfessionen mehr Zeit damit verbringen, unsere Unterschiede zu betonen als unsere gemeinsame Mission zu leben, dann verspielen wir die Glaubwürdigkeit, die uns als Zeugen Jesu Christi zukommt.

Die Einheit, die Jesus gewollt hat, ist keine institutionelle Gleichschaltung. Sie ist eine Herzensgemeinschaft derer, die sich von seiner Liebe haben berühren lassen. Eine Gemeinschaft, die groß genug ist für den äthiopischen Eunuchen und den römischen Gefängniswärter, für Sie und mich, für alle Menschen guten Willens.

Möge Gott uns die Gnade schenken, wieder zu dieser ursprünglichen Einfachheit und Weite zurückzufinden. Nicht um alles gleichzumachen, sondern um das Eine zu leben, was uns alle verbindet: die Liebe, die in Jesus Christus Fleisch geworden ist.


von P. Oliver Heck