zum Evangelium des 2. Ostersonntag – der Zweifelnde Thomas
Selbstannahme: Barmherzig mit sich selbst umgehen
Am 2. Ostersonntag steht besonders die Barmherzigkeit Gottes im Mittelpunkt unserer Betrachtung.
Ja, es gibt erschütterndes Unrecht auf unserer Erde. Die Nachrichten führen uns täglich vor Augen, wozu Menschen fähig sind. Und doch – Jesus wollte allen, selbst denjenigen, die schwerste Schuld auf sich geladen haben, die Möglichkeit schenken, umzukehren und ein neues Leben zu beginnen. Dafür hat er sein Leben hingegeben.
Doch es wäre zu kurz gedacht, wenn wir die Barmherzigkeit Gottes nur als ein Angebot für die „großen Sünder“ verstünden. Wir alle – jeder von uns – sind eingeladen, diese Barmherzigkeit für uns selbst in Anspruch zu nehmen. Nicht einmal die Heiligen waren frei von Fehlern und Schwächen – wie könnten wir da meinen, es besser zu machen?
Wie aber nehmen wir diese göttliche Barmherzigkeit für uns selbst an? Gewiss, wir vollziehen zu Beginn jeder Messfeier den Bußakt und bitten Gott um Vergebung. Im Vaterunser flehen wir: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Doch oft fehlt ein entscheidender Aspekt:
Vergeben wir auch uns selbst?
Dies mag zunächst wie eine Selbstverständlichkeit klingen: „Natürlich vergebe ich mir selbst.“ Wenn wir jedoch tiefer blicken, wenn wir Vergebung umfassender verstehen, wird es herausfordernd. Schon der Versuch, uns so anzunehmen, wie wir wirklich sind – mit all unseren Unzulänglichkeiten, Schwächen und Brüchen – bringt uns ins Wanken. Dabei zeigen zahlreiche psychologische Studien einen bemerkenswerten Zusammenhang:
Wenn wir mit uns selbst barmherziger umgehen, werden wir auch anderen gegenüber barmherziger.
Doch kann ich mich tatsächlich so annehmen, wie ich bin? Kann ich meine gegenwärtige Lebenssituation akzeptieren, selbst wenn ich sie momentan nicht ändern kann? Hier trägt jeder von uns seine ganz persönliche Last. Fast jeder kennt dieses nagende Gefühl, irgendetwas an sich ändern zu wollen. Der eine wünscht sich, jünger zu sein, die andere sehnt sich nach mehr Intelligenz, Schönheit oder friedvoller zu sein. Genau deshalb brauchen wir diese tiefe Nachsicht mit uns selbst.
Aus christlicher Perspektive ist es nicht nur hilfreich, sondern wesentlich, barmherzig und liebevoll mit sich selbst umzugehen. Dies ist keine Selbstbezogenheit, sondern die Voraussetzung dafür, auch anderen in echter Zuwendung begegnen zu können.
Wer sich selbst nicht annimmt, wird kaum fähig sein,
andere in ihrer Unvollkommenheit anzunehmen.
Gänzlich ungeeignet für den Umgang mit uns selbst sind Lebenshaltungen, die in Sätzen wie diesem zum Ausdruck kommen: „Was mich nicht umbringt, macht mich nur härter.“ Solche Einstellungen offenbaren eine innere Trotzhaltung. Mit solcher Verhärtung kommen wir jedoch nicht weiter auf unserem Lebensweg.
Es braucht tatsächlich Mut, sich selbst so anzunehmen, wie man ist. Wir alle stoßen immer wieder auf Abschnitte unserer Lebensgeschichte, die wir bedauern. Vielleicht möchten wir Entscheidungen rückgängig machen, Worte zurücknehmen, die verletzt haben, oder verpasste Gelegenheiten nachholen. Doch in den meisten Fällen ist dies nicht möglich. So bleibt uns nur der Weg der Barmherzigkeit – mit uns selbst und unserer Geschichte so umzugehen, wie sie nun einmal ist.
In den Herausforderungen unseres Lebens helfen auch jene gut gemeinten Ratschläge wenig, die uns ständig zurufen: „Sei stark.“ Denn unweigerlich wird ein Moment kommen, in dem wir schwach sind, in dem wir einfach nicht mehr können. In solchen Momenten bleibt uns nur, uns in unserer Verletzlichkeit anzunehmen.
Auch die Mahnung „Sei vorsichtig“ führt nicht immer zum Ziel. Denn letztlich müssen wir alle irgendwann heraustreten aus unserer Komfortzone und mutig neue Wege beschreiten.
„Sei beliebt“ kann ebenso zur Falle werden, wenn wir versuchen, es allen recht zu machen und dabei uns selbst vernachlässigen. Wenn wir nicht den Mut aufbringen, auch einmal „Nein“ zu anderen zu sagen, aber ständig „Nein“ zu uns selbst sagen.
Sogar der Anspruch „Sei perfekt“ kann uns in tiefe innere Konflikte stürzen. Denn Perfektion bleibt unerreichbar – in allen Lebensbereichen, auch im moralischen Sinne. Es gibt keinen Heiligen, der nicht auch seine Ecken und Kanten, seine menschlichen Schwächen gehabt hätte.
Der einzige gangbare Weg, auf dem wir wirklich weiterkommen, ist jener der Selbstannahme – uns so zu akzeptieren, wie wir sind, mit all unseren Licht- und Schattenseiten. Mit uns selbst barmherzig zu sein, so wie Gott mit uns barmherzig ist. Vielleicht können wir es als Segenswünsche für uns selbst formulieren:
Möge ich sicher sein.
Möge ich in Frieden sein.
Möge ich freundlich zu mir selbst sein.
Möge ich mich selbst so annehmen, wie ich bin.
In dieser Haltung der Barmherzigkeit mit uns selbst liegt ein tiefer Sinn des heutigen Festtages. Die Barmherzigkeit Gottes, die wir feiern, möchte nicht nur äußerlich bleiben, sondern in unser Innerstes vordringen und uns befähigen, mit liebevollem Blick auf unsere eigene Lebensgeschichte zu schauen. Nur wer sich selbst in diesem Licht sieht, wird fähig sein, auch anderen diesen barmherzigen Blick zu schenken.
P. Oliver Heck