zur Feldpredigt Jesu (Lk 6,27-38)
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen an einem warmen Sommertag auf dem Hang eines Berges. Um Sie herum Menschen, die gebannt den Worten eines Mannes lauschen, der von etwas spricht, das unser tiefstes Wesen herausfordert: „Liebet eure Feinde.“ Diese Worte Jesu treffen uns bis heute ins Mark, denn sie berühren einen der verwundbarsten Punkte unseres Menschseins.
Wenn uns jemand verletzt, spüren wir einen uralten Mechanismus in uns erwachen. Unser Herz schlägt schneller, unsere Muskeln spannen sich an – wir sind bereit zur Verteidigung oder zur Flucht. Diese Reaktion haben wir nicht nur mit unseren tierischen Verwandten gemeinsam, sie ist tief in unserem Wesen verankert, ein Echo unserer evolutionären Geschichte.
Doch Jesus lädt uns ein, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Seine Aufforderung zur Feindesliebe ist keine naive Romantik, sondern ein radikaler Weg zur Transformation unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Wenn wir ehrlich sind, kennen wir alle diese inneren Widerstände: „Wenn ich nachgebe, werde ich als schwach angesehen.“ „Wenn ich vergebe, wird der andere das nur ausnutzen.“ Diese Gedanken sind wie schwere Steine, die uns den Weg zur Versöhnung versperren.
Denken Sie an einen Moment in Ihrem Leben, wo Sie tief verletzt wurden. Spüren Sie die Schwere dieser Erinnerung? Jesus wusste um diese menschliche Erfahrung. Am Kreuz rang er selbst mit der übermenschlichen Aufgabe der Vergebung: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Diese Worte waren keine leichtfertige Geste, sondern entstanden aus tiefem innerem Ringen.

Der Weg der Vergebung ist wie das Öffnen eines verkrampften Fingers nach einer Verletzung – schmerzhaft und behutsam zugleich. Es geht nicht darum, Unrecht zu rechtfertigen oder sich selbst zu verleugnen. Vielmehr geht es um die tiefe Erkenntnis, dass der Kreislauf von Vergeltung und Gewalt nur durchbrochen werden kann, wenn jemand den Mut hat, einen ersten Schritt aus der Spirale heraus zu wagen.
Dabei übersehen wir oft eine wichtige Wahrheit: In den meisten Konflikten gibt es keine eindeutige Schuldzuweisung. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir oft ein komplexes Gewebe von Missverständnissen, verletzten Gefühlen und unerfüllten Erwartungen. Der Glaube, der andere müsse den ersten Schritt tun, weil er „schuld“ sei, ist oft eine Sackgasse, in der beide Seiten gefangen bleiben.
Die Kraft zur Feindesliebe können wir nicht aus uns selbst schöpfen. Sie ist ein Geschenk der Gnade, das wir nur in der Verbindung mit Gott empfangen können. Wie ein Weinstock seine Reben nährt, so nährt uns die Gegenwart Christi mit der Kraft zur Vergebung.
Wenn Sie das nächste Mal spüren, wie Wut oder Verbitterung in Ihnen aufsteigen, halten Sie einen Moment inne. Atmen Sie bewusst und erinnern Sie sich daran, dass auch Ihr „Feind“ ein Mensch ist, mit eigenen Ängsten, Verletzungen und Hoffnungen. Vielleicht ist dies der erste kleine Schritt auf dem Weg zur Feindesliebe – nicht als große heroische Geste, sondern als behutsames Öffnen des Herzens für die Möglichkeit der Versöhnung.
Denn letztlich ist die Feindesliebe nicht nur ein Gebot Jesu, sondern auch der einzige Weg zu wahrem Frieden – in unseren Familien, in unserer Gesellschaft und in unserem eigenen Herzen. Sie ist der Weg, der uns aus der Gefangenschaft unserer eigenen Verbitterung befreit und uns die Tür zu einem Leben in echter Freiheit öffnet.
von P. Oliver Heck
externer Link: Tag der Vergebung