Schlagwort: Leben in Fülle

  • Der Ruf nach Leben in Fülle: Zu Lk 6,17.20-26

    Der Ruf nach Leben in Fülle: Zu Lk 6,17.20-26

    Ansprache zu Lk 6, 17.20–26: Feldpredigt Jesu mit Seligpreisungen und Weherufen. (6. So. i.Jk. C)

    Als Jesus seine Feldpredigt hielt, drängten sich Menschen um ihn – nicht in einer geordneten Kirchenbank, sondern im Staub Palästinas. Tagelöhner, die nicht wussten, ob sie morgen Arbeit finden würden. Fischer, deren Netze leer geblieben waren. Kranke, die von der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Menschen, die unter der dreifachen Last der römischen Besatzung, der religiösen Vorschriften und der wirtschaftlichen Not ächzten.

    Feldpredigt, Arm und Reich, Isreal

    In diese Realität hinein sprach Jesus seine Botschaft vom Reich Gottes. Es war keine abstrakte Predigt über Armut und Reichtum, sondern eine Botschaft, die die Grundfesten der damaligen Gesellschaftsordnung erschütterte. In der Antike galt Armut als Zeichen göttlicher Ungnade, Reichtum als Beweis göttlichen Segens. Jesus stellte diese Weltdeutung radikal auf den Kopf.

    Diese Umkehrung der Perspektive durchzieht wie ein roter Faden die biblische Tradition. Im Buch Exodus hören wir Gottes leidenschaftlichen Ruf: „Ich habe das Elend meines Volkes gesehen […] Ich kenne ihr Leid“ (Ex 3,7). Es ist keine distanzierte Beobachtung, sondern die Stimme eines Gottes, der sich vom Leid seines Volkes zutiefst berühren lässt. Der Psalmist greift diese Erfahrung auf, wenn er betet: „Er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen und den, der keinen Helfer hat“ (Ps 72,12).

    Gottes besondere Zuwendung zu den Armen entspringt nicht einem romantischen Ideal von Armut. Im Gegenteil: Weil Gott selbst die Fülle des Lebens verkörpert, steht jeder Mangel, jede Entbehrung, jede Form von Ausgrenzung im Widerspruch zu seinem Willen. Seine Parteinahme für die Armen ist Ausdruck seiner Vision vom Leben in Fülle für alle Menschen.

    Die Warnung Jesu vor den Gefahren des Reichtums zeigt dabei eine erstaunliche Differenziertheit. Er begegnete dem römischen Hauptmann von Kafarnaum, einem Mann von beträchtlichem Einfluss, mit Respekt (Lk 7,4ff). Er nahm die Unterstützung wohlhabender Frauen wie Johanna und Susanna an (Lk 8,3). Dies verdeutlicht: Nicht der Besitz an sich ist das Problem, sondern die Art, wie Menschen sich davon vereinnahmen lassen, wie er ihren Blick auf die Welt und ihre Mitmenschen prägt.

    Die Geschichte lehrt uns: Wo Menschen Macht und Reichtum anhäufen, verlieren sie oft den Bezug zur Realität. Im römischen Reich lebten wenige in unvorstellbarem Luxus, während die Masse der Bevölkerung kaum das Nötigste hatte. Es ist ein Muster, das sich durch die Jahrhunderte zieht, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen.

    Das Evangelium lädt uns heute ein, unsere eigene Position in diesem Gefüge ehrlich zu reflektieren. Der Satz unseres Grundgesetzes „Eigentum verpflichtet“ (Art. 14,2) erinnert an die biblische Einsicht: Alles, was wir besitzen, ist letztlich Leihgabe, anvertrautes Gut zum Wohl aller.

    Die Botschaft Jesu ist dabei keine simple Umkehrung der Verhältnisse, kein naives „Arm gut – reich schlecht“. Sie ist vielmehr eine Einladung, die Logik von Macht und Besitz zu durchbrechen und neue Formen des Miteinanders zu entwickeln. Eine Einladung, die heute so herausfordernd ist wie damals.

    Wenn wir diese Worte Jesu heute hören, dann nicht als zeitlose Wahrheiten, sondern als Aufruf, in unserer Zeit Wege zu finden, wie Leben in Fülle für alle möglich wird. Dies bedeutet, genau hinzuschauen: Wo entstehen heute neue Formen von Armut? Wo werden Menschen ausgegrenzt?

    So wird aus der verstörenden Botschaft Jesu eine befreiende Perspektive: Wir sind nicht gefangen in den Strukturen von Macht und Ohnmacht. Es gibt einen anderen Weg – den Weg der tätigen Liebe, der Gerechtigkeit, der Teilhabe. Einen Weg, der uns aufruft, mit dem, was uns gegeben ist, Räume der Hoffnung zu öffnen.

    von P. Oliver Heck SVD

    Feldrede – Wikipedia