Schlagwort: Liebe zu Gott

  • Der Sinn des Lebens: Liebe als Ursprung und Ziel

    Auslegung zum Evangelium vom 5. Sonntag nach Ostern.

    Im Evangelium begegnet uns die Goldene Regel – jene zeitlose Weisheit, die sich wie ein roter Faden durch fast alle Religionen und Kulturen zieht: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen!“ (Mt 7,12; Lk 6,31). Diese Regel scheint tief in unserem Menschsein verankert zu sein, als fundamentales Prinzip für jegliches zwischenmenschliche Miteinander.

    Im Christentum verdichtet sich dieser Gedanke in der konkreten Aufforderung zur Nächstenliebe: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (vgl. Mt 22,36-40). Wir alle kennen die innere Spannung, die dieser Anspruch in uns auslöst. In den Augenblicken, in denen ein Kollege unsere Geduld strapaziert, wenn der Nachbar uns verärgert, oder wenn wir uns von einem geliebten Menschen missverstanden fühlen – genau dann wird die Herausforderung des Liebesgebots spürbar real.

    Angesichts dieser alltäglichen Schwierigkeiten könnten wir enttäuscht über uns selbst und die Welt resignieren: „Das ist eine völlige Überforderung. Das lässt sich im Leben nicht umsetzen. Das schaffe ich nie.“ Dieser Weg steht uns offen – es ist aber der Weg der Verzweiflung. Doch wir Christen wählen bewusst den Pfad der Hoffnung, wissend um seine Steilheit. Denn wenn wir aufgeben, wer trägt dann noch Licht in die Welt?

    Der barocke Mystiker Angelus Silesius bringt es in einem seiner berühmten Zweizeiler kraftvoll zum Ausdruck:

    Lieb üben hat viel Müh: wir sollen nicht allein nur lieben, sondern selbst, wie Gott, die Liebe sein.

    (Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Buch 1.71)

    Denken Sie einen Moment darüber nach: Es geht nicht nur darum, zu lieben als etwas, das wir tun, sondern die Liebe selbst zu werden – eine Verwandlung unseres ganzen Wesens. Dies korrespondiert wunderbar mit Jesu Vermächtnis an seine Jünger im Johannesevangelium: „Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben“ (Joh 13,34; vgl. 1 Joh 2,7; 1 Joh 4,7).

    Silesius erkennt den untrennbaren Zusammenhang zwischen der Liebe zu Gott und zum Nächsten:

    „Wer in dem Nächsten nichts als Gott und Christum sieht, Der siehet mit dem Licht, das aus der Gottheit blüht.“

    (Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Buch I, Nr. 218)

    Mit anderen Worten: Wer im Nächsten Gottes Ebenbild erkennt, der nimmt das göttliche Licht im Mitmenschen wahr. Stellen Sie sich vor, wie unser Zusammenleben sich wandeln würde, wenn wir in jedem Menschen – auch in dem schwierigen Nachbarn, dem ungeduldigen Verkäufer oder dem politischen Gegner – dieses göttliche Licht wahrnehmen würden.

    Es geht dabei weniger um einzelne Aktionen oder gute Taten, sondern um eine grundlegende innere Haltung. Wenn ein Mensch sich bemüht, in seinem Gegenüber Gottes Licht zu sehen, folgt daraus wie von selbst ein entsprechendes Handeln. Die Liebe wird nicht zur Pflichtübung, sondern zur natürlichen Ausdrucksform unseres Seins.

    Unter dieser Voraussetzung wagt Silesius einen geradezu revolutionären Gedanken:

    „Gott lebt nicht ohne mich. Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben:

    Werd ich zunicht, er muss von Not den Geist aufgeben.“

    (Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Buch I, Nr. 8)

    Ins moderne Deutsch übertragen:

    „Gott existiert nicht unabhängig von mir. Ich erkenne: Ohne meine Existenz könnte Gott keinen einzigen Augenblick bestehen. Würde ich vergehen, müsste Gott zwangsläufig seinen Geist aufgeben.“

    Bei oberflächlicher Betrachtung mag dieser Spruch vermessen klingen. Es geht jedoch keineswegs darum, den Menschen zu vergöttern. Wir haben oft das Gegenteil gehört: Der Mensch müsse vergehen vor dem großen und mächtigen Gott. Doch diese Vorstellung greift zu kurz. Überlegen Sie: Wenn Sie einen Menschen aufrichtig lieben – Ihr Kind, Ihren Partner, einen Freund – würden Sie dann wollen, dass dieser Mensch in Ehrfurcht vor Ihnen erstarrt oder gar Angst vor Ihnen hat?

    Im Gegenteil: Gott hat sich mit uns auf Augenhöhe begeben. Das ist nicht anmaßend, sondern entspricht dem, was Jesus selbst wollte:

    Bleibt in mir und ich bleibe in euch. … Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!

    (Joh 15,4.9; 17,21-23)

    Hierin liegt der Sinn unseres Lebens: Gott und den Nächsten zu lieben. Diese Wahrheit ist zugleich einfach und unendlich tief. Wenn Sie jemals nach dem Sinn des Lebens für sich gefragt haben – hier ist er: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und liebe Gott über alles.

    Angelus Silesius gibt uns mit seinem kühnen Gedanken eine besondere Perspektive auf diese Wahrheit:

    „Gott lebt nicht ohne mich. Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben: Werd ich zunicht, er muss von Not den Geist aufgeben.“

    In dieser wechselseitigen Beziehung, in dieser göttlichen Abhängigkeit liegt ein tiefer Trost: Wir sind nicht belanglos. Unsere Existenz, unser Lieben, unser Sein hat kosmische Bedeutung. Wenn wir lieben, wird Gott in der Welt gegenwärtig. Wenn wir im Anderen das göttliche Licht erkennen, leuchtet es durch uns hindurch.

    So lasst uns das Wagnis der Liebe eingehen – nicht als unerreichbares Ideal, sondern als tägliche Praxis, die unser Leben und die Welt um uns herum verwandelt.

    P. Oliver Heck


    Quellenangabe: Zitate aus: Der Mystiker Angelus Silesius, Textauswahl und Kommentar von Gerhard Wehr, marixverlag