Der Splitter im Auge des anderen und der Balken im eigenen Auge
zu Lk 6, 39–45, 8. So. i.Jk.-C
Jesus fordert uns in seiner Predigt im Evangelium auf, uns selbst kritisch zu hinterfragen mit der eindringlichen Frage: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Nächsten, erkennst aber den Balken im eigenen Auge nicht?“
Auch in den Sprüchen heißt es: „Jeder Weg eines Menschen ist recht in seinen Augen, aber der HERR prüft die Herzen.“ Sprüche 21,2 Diese Worte berühren eine tiefe Wahrheit: Wir Menschen neigen dazu, unsere eigenen Handlungen zu rechtfertigen, während Gott unsere wahren Absichten und verborgenen Fehler erkennt.
Warum fällt es uns so schwer, den eigenen Balken zu sehen? Es ist nicht bloß böser Wille, sondern eine Eigenart unseres Menschseins. Wir tragen einen blinden Fleck in unserer Wahrnehmung. Unser Blick ist nach außen gerichtet, und um uns selbst zu betrachten, benötigen wir einen Spiegel. Manchmal können andere Menschen für uns dieser Spiegel sein – auch wenn ihr Bild von uns manchmal verzerrt erscheinen mag.
Wenn jemand uns auf eine unserer Schwächen aufmerksam macht, spüren wir oft einen inneren Widerstand. Es schmerzt, mit den eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert zu werden. Diese Abwehr ist zutiefst menschlich – wir sehnen uns danach, vor anderen und vor uns selbst in gutem Licht zu stehen. Wir streben nach Anerkennung und Zuwendung.
Denken Sie an einen Moment, in dem Sie kritisiert wurden. Wie schnell haben Sie nach Rechtfertigungen gesucht? Wie rasch haben Sie die Aufmerksamkeit auf die Schwächen des anderen gelenkt? Bei uns selbst schauen wir auf unsere guten Absichten, bei anderen oft nur auf ihr Verhalten. „Ich wollte ja nur helfen,“ sagen wir, während wir beim anderen denken: „Wie konnte er nur so reagieren?“
Das Evangelium gibt uns einen klaren Auftrag: Bevor wir den Splitter im Auge des anderen suchen, sollten wir den Balken im eigenen Auge wahrnehmen. Doch wie kann das in unserem Alltag gelingen?
Der erste Schritt ist, unsere Schwächen anzunehmen, ohne uns selbst zu entwerten. Selbsterkenntnis bedeutet nicht Selbstverurteilung. Es geht vielmehr um einen liebevollen, aber ehrlichen Blick auf uns selbst. Je mehr wir davon überzeugt sind, keine Fehler zu haben, desto schwieriger wird es, Schwächen anzuerkennen.
Vielleicht kennen Sie das Gefühl, wenn eine Erkenntnis über sich selbst wie ein Lichtstrahl durch die Selbsttäuschung bricht: „So hatte ich mich noch nie gesehen!“ Es kann schmerzhaft sein, aber auch befreiend. Diese Momente der Klarheit sind Geschenke auf unserem Weg.
Und wenn wir nicht gerade im Wettbewerb mit jemandem stehen, sondern von guten Freunden umgeben sind, können wir solche Erkenntnisse sogar teilen: „Stell dir vor, was mir bewusst geworden ist. Ich dachte immer, ich wäre so geduldig mit anderen, und dann hat mich jemand darauf aufmerksam gemacht, wie schnell ich eigentlich urteile. Es war nicht leicht zu hören, aber jetzt verstehe ich mich selbst ein Stück besser.“
Vielleicht wird ein Freund dann leise nicken und antworten: „Ja, das kenne ich auch von mir.“
Niemand von uns ist vollkommen. Wir alle tragen unsere typischen Schwächen mit uns, die wir nicht einfach abstreifen können wie ein altes Kleid. Selig, wer damit gelassen und weise umgehen kann, ohne sich selbst oder andere zu verurteilen.
Jesus lädt uns ein zu einem Leben in Wahrhaftigkeit – zu einem barmherzigen Blick auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen. Wenn wir unsere eigenen Balken erkennen, werden wir behutsamer im Umgang mit den Splittern der anderen. Und vielleicht entdecken wir dabei, dass wir alle gemeinsam unterwegs sind – bedürftig und doch geliebt, unvollkommen und doch von Gott angenommen.
von P. Oliver Heck